Chronische Rückenschmerzen können nur dann geheilt werden, wenn Patienten verstehen, wie stark sie vom Gehirn und nicht von der Wirbelsäule verursacht werden.
Für Patienten, die versuchen, chronische Rückenschmerzen zu heilen, kann dies ständige Frustration bedeuten. Ob sie versuchen, ihre schmerzenden Muskeln, Knochen und Bänder mit Physiotherapie, Massagen oder Operationen zu heilen, eine Linderung ist leider oft nicht in Sicht – die Schmerzen verschlimmern sich sogar oft noch. Eine neue Arbeitshypothese erklärt nun warum: Anhaltende Rückenschmerzen ohne eine offensichtliche mechanische Ursache müssen nicht immer auf eine Gewebeschädigung zurückzuführen sein. Stattdessen wird dieser Schmerz vom zentralen Nervensystem (ZNS) erzeugt und hat seinen Sitz im Gehirn selbst.
Praktisch jeder, der an Rückenschmerzen leidet, möchte ein MRT der Wirbelsäule durchführen lassen, ein bildgebendes Verfahren, bei dem ein 3 Meter breiter Magnet in Form eines Donuts und Radiowellen verwendet werden, um die Knochen und Weichteile im Körperinneren zu untersuchen. Wenn der Radiologe eine „degenerative Bandscheibenerkrankung“ diagnostiziert und mehrere vorgefallene Bandscheiben und einige Knochenosteophyten auffindet, kommt der Patient selbst leicht zu dem Schluss, dass seine Wirbelsäule kurz vor dem Zusammenbruch steht und er eine sofortige Hilfe eines Wirbelsäulenchirurgen benötigt.
Zahlreiche Studien, die seit Anfang der neunziger Jahre die Nützlichkeit von bildgebenden Verfahren der Wirbelsäule bewerten, haben jedoch gezeigt, dass Menschen, die keinerlei Anzeichen von Rückenschmerzen haben, im MRT die gleichen unangenehmen Artefakte aufweisen wie diejenigen, die arbeitsunfähig sind. Bildgebungsverfahren konnten helfen, bestimmte Erkrankungen wie Krebs der Wirbelsäule, Infektionen, Brüche und einen Zustand namens Cauda-equina-Syndroms auszuschließen, bei dem der Patient die Kontrolle über Darm oder Blase verliert. Diese Diagnosen waren jedoch sehr selten. Im Allgemeinen war die Korrelation zwischen den Symptomen und Bildgebungsbefunden schlecht, wobei dennoch in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien jedes Jahr zehntausende MRT-Untersuchungen der Wirbelsäule durchgeführt wurden.
Sehr oft war der nächste Schritt eine Operation. Bei einigen Erkrankungen, wie beispielsweise einer kürzlich vorgefallenen Bandscheibe, die auf eine Wurzel des Rückenmarks drückt und zu Schmerzen oder Taubheitsgefühl in den Beinen führt, die in der Folge mit einer fortschreitenden Schwäche oder Lähmung der Beine verbunden ist, kann eine Dekompression des Nervs die Schmerzen lindern. Das Problem ist jedoch, dass alle Operationen Risiken bergen und die Rehabilitation viel Zeit und Mühe erfordert. Studien zeigen, dass die Ergebnisse von Patienten, die sich nach einem Jahr für eine Operation entscheiden, und denen, die sich dagegen entscheiden, praktisch gleich sind.
Invasive Operationen bergen größere Risiken. Als besonders gefährlich gilt die Fusion der Wirbelsäule, ein Eingriff, bei dem zwei oder mehr Wirbel dauerhaft miteinander verbunden werden sollen, um jegliche Bewegung zwischen ihnen zu verhindern. Selbst wenn die Wirbel richtig zusammenwachsen, werden die Patienten oft nicht von den Schmerzen befreit, die sie mit in den Operationssaal gebracht haben. Darüber hinaus führt eine Fusionsoperation häufig zu einer „Verschlimmerung des angrenzenden Segments“, was sogar eine Revisionsoperation erforderlich machen kann.
In den Vereinigten Staaten scheitern jährlich etwa 80.000 Wirbelsäuleneingriffe, wobei jeder fünfte Patient zu einer weiteren Operation zurückkehrt. Der zweite, dritte und vierte Versuch haben meist noch geringere Erfolgschancen und die Patienten benötigen weiterhin langfristig Schmerzmittel. Selbst Eingriffe, die Chirurgen als erfolgreich betrachten, weil die Knochen zusammenwachsen und im Röntgenbild perfekt aussehen, helfen den Patienten oft nicht. In einer Studie nahm die Schmerzintensität der Patienten zwei Jahre nach einer Wirbelsäulenfusion nur um die Hälfte ab, wobei die meisten Patienten weiterhin Schmerzmittel einnahmen. Angesichts dieser Ergebnisse sind die Kosten für die Behandlung von Rückenschmerzen enorm hoch. Wirbelsäulenoperationen sind sehr teuer, wobei aber auch andere Behandlungsmöglichkeiten wie beispielsweise die epidurale Steroidinjektionen, Physiotherapie und Chiropraktik kostspielig sind.
Einschließlich der direkten medizinischen Kosten und der indirekten Kosten wie dem Verdienstausfall kostet die Rückenschmerzversorgung den USA schätzungsweise 100 Milliarden US-Dollar jährlich. In Großbritannien sind es etwa 10,6 Milliarden Pfund. In Australien sind es 1,2 Milliarden australische Dollar. Ein großer Teil dieser Kosten entsteht dadurch, dass die Menschen krankgeschrieben werden. Ein weiterer Teil ist die Folge der verheerenden Auswirkungen der Abhängigkeit von verschreibungspflichtigen Opioiden. In Australien stieg die Zahl der verschriebenen Opioide zwischen 1992 und 2012 um das 15-fache, wodurch die Kosten für die australische Regierung um mehr als das 32-fache stiegen.
4 Arten von Schmerzen
Schmerzen lassen sich in vier grundlegende Kategorien unterteilen:
- Nozizeptive Schmerzen: Dies sind meist kurzzeitige Schmerzen. Wenn man sich beispielsweise versehentlich den Finger in der Autotür einklemmt.
- Entzündliche Schmerzen: Dies ist eine Reaktion auf eine Gewebeschädigung oder Infektion, die zu einem Zustrom kleiner Proteine, sogenannter Entzündungszytokine, an die Stelle der Verletzung führt. Diese Schmerzen neigen dazu, sich auszubreiten und alles in der Umgebung zu beeinträchtigen.
- Neuropathische Schmerzen: Diese sind auch als „Radikulalgie“ bekannt und werden meist durch eine Nervenschädigung verursacht. Sie äußern sich in brennenden, stechenden oder schockartigen Empfindungen, die entlang des gesamten verletzten Nervs verlaufen (ein gutes Beispiel hierfür wäre der Ischiasschmerz).
Wenn einer dieser drei Schmerztypen lange nach der Heilung der Verletzung anhält oder sogar ohne jeglichen schädlichen Reiz auftritt, kann man davon ausgehen, dass der Patient an einer „zentralen Sensibilisierung“ leidet.
Die zentrale Sensibilisierung ist ein Zustand, bei dem selbst leichte Verletzungen zu einer hyperaktiven und anhaltenden Reaktion des zentralen Nervensystems führen können – und dies ist die vierte Art von Schmerz.
Das ZNS umfasst die dorsalen Wurzelganglien, die die Zellkörper der sensorischen Neuronen enthalten, die die Übertragung von Informationen aus der Peripherie an Rückenmark und Gehirn ermöglichen. Das periphere Nervensystem (PNS) besteht aus den Nerven außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks, die alle Teile des Körpers versorgen, die nicht vom ZNS versorgt werden. Würde man die Nervenfasern von einem Ende bis hin zu einem anderen Ende auflegen, käme man auf Ganze 40 Kilometer.
„Je mehr sich der Schmerz zentralisiert, desto schwieriger und weniger relevant wird es, die ursprüngliche Quelle zu identifizieren“, erklärte Clifford Woolf, Neurologe und Neurobiologe an der Harvard Medical School.
Schmerz ist keine Strafe Gottes
Vor mehr als drei Jahrhunderten äußerte der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes die ketzerische Idee, dass Schmerz keine Strafe Gottes sei bzw. keine Prüfung, die man ertragen müsse und dass das einzige Heilmittel das Gebet sei. Stattdessen argumentierte er, dass Schmerz als mechanische Reaktion auf eine körperliche Schädigung existiere. Sein Werk „Abhandlung über den Menschen“ sollte erst nach seinem Tod veröffentlicht werden (einige sagen, weil er die Verfolgung durch die christlichen Autoritäten befürchtete, für die die Androhung von Schmerz ein nützliches Rekrutierungsinstrument war).
In der endgültigen Ausgabe seines Werkes schlug Descartes jedoch die Existenz von „hohlen Röhrchen“ vor. Diese „tierischen Geister“, wie er sie nannte, sollten über einen speziellen somatosensorischen Pfad Informationen vom Ort der Verletzung zum Gehirn transportieren. Descartes glaubte, dass die Intensität des Schmerzes mit der Schwere der Gewebeschädigung zunimmt. Ohne eine solche Schädigung – einen gebrochenen Knochen, eine Wunde oder eine Verbrennung – sollte es keinen Schmerz geben.
Aber natürlich gab es ihn.
Die Tore des Schmerzes
Mitte der 1960er Jahre beschlossen zwei Wissenschaftler, der kanadische Psychologe Ronald Melzack und der britische Neurobiologe Patrick Wall, die damals beide am Massachusetts Institute of Technology tätig waren, die Frage zu beantworten, wie Schmerz bestehen kann, wenn keine Verletzung vorliegt. Meistens war dies eine Spekulation. Es dauerte noch einige Jahre, bis moderne Bildgebungsverfahren ihnen einen Einblick in die Struktur des lebenden menschlichen Gehirns ermöglichten.
In ihrem bahnbrechenden Artikel „Mechanisms of Pain: A New Theory“ (1965) in der Zeitschrift Science widmeten sich Melzack und Wall der Erforschung der Pathophysiologie chronischer Schmerzen. Sie nutzten dazu Erkenntnisse aus Autopsien, chirurgischen Eingriffen, Neurofeedback und Patientenberichten. Basierend auf ihren Analysen formulierten die beiden Wissenschaftler die „Gate-Control-Theorie des Schmerzes“. Diese Theorie besagt, dass im Rückenmark bestimmte Nervenzellen wie Tore fungieren. Diese Tore können sich öffnen und den Durchlass von Schmerzsignalen zum Gehirn ermöglichen oder sie können geschlossen bleiben und die Weiterleitung der Signale blockieren. Die Wissenschaftler vermuteten, dass die Tore manchmal in der offenen Position stecken bleiben und so den ungehinderten Fluss von Schmerznachrichten ermöglichen. Genau diese Idee – die Vorstellung eines ständigen Nachrichtenstroms vom peripheren Nervensystem (PNS) zum Zentralnervensystem (ZNS) – weckte Clifford Woolfs Interesse daran, die Mechanismen hinter Schmerzentstehung und -linderung zu entschlüsseln.
Wie Schmerz die Struktur des Gehirns verändert
Im Jahr 1983 war Woolf ein junger Assistenzarzt für Anästhesiologie mit einem Doktortitel in Neurobiologie. Er forschte als Postdoc in Walls Labor, das zu diesem Zeitpunkt an das University College London umgezogen war. Dort untersuchte er postmortale zelluläre und molekulare Veränderungen im Gehirngewebe von Menschen, die zu Lebzeiten an chronischen Schmerzen gelitten hatten.
Anstatt auf unangenehme Empfindungen von außen zu reagieren, begann das Gehirn im Belagerungszustand selbst Schmerzen zu erzeugen.
Später hatte einen Zugang zu leistungsfähigen Bildgebungsverfahren in Form der funktionellen Magnetresonanztomographie fMRT. Diese konnte Veränderungen des Blutflusses, des Volumens, des Sauerstoffs oder des Glukosemechanismus im Gehirn messen, was es Woolf ermöglichte, die Reaktion des Gehirns auf Schmerz bei lebenden Probanden zu verfolgen. So begann Woolf, die vielfältigen Arten der Kommunikation zwischen Neuronen in verschiedenen Hirnregionen zu untersuchen; wie sie eine größere Anzahl von Synapsen bilden, die Regionen verbinden, die normalerweise nicht miteinander verbunden sind, um zusammenzuarbeiten; und wie diese neuronalen Veränderungen zur Schmerzwahrnehmung führen. Er stellte fest, dass sich die Hirnregionen, die auf akute, experimentelle Schmerzen reagieren, von denjenigen unterscheiden, die an chronischen Schmerzen beteiligt sind. In den folgenden drei Jahrzehnten erforschte Woolf den Zusammenhang zwischen spezifischen Genotypen und chronischen Schmerzen und suchte nach potenziellen Zielscheiben für die Pharmakotherapie. Dies geschah nur langsam, auch weil Pharmaunternehmen Opioid-Analgetika mit Gewinn verkauften. Als Mitte der 2000er Jahre die Wirksamkeit und Sicherheit von Opioiden in Frage gestellt wurden, erhielt Woolfs Arbeit neuen Auftrieb.
Nicht-invasive neurologische Bildgebungsverfahren (fMRT) ermöglichen die Untersuchung der zellulären Eigenschaften verschiedener Hirnregionen und bieten somit einen neuen Ansatz zur Erforschung neurologischer Erkrankungen.
Kognitive Auswirkungen von Schmerz
Parallel dazu erforschte der renommierte Neurowissenschaftler A.V. Apkarian an der Feinberg School of Medicine der Northwestern University in Chicago die Auswirkungen chronischer Schmerzen auf spezifische Hirnregionen. Apkarian, Professor für Physiologie, Anästhesiologie und Sportmedizin, leitet seit zwei Jahrzehnten das „Pain and Passions Lab“, wo sein Team an Nagetieren und Menschen die kognitiven Folgen von Schmerz untersucht.
„Als wir 1999 mit dieser Forschung begannen“, sagte Apkarian, „glaubten nur sehr wenige Menschen, dass Schmerz mehr ist, als nur Nerven, die ein Signal an einen bestimmten Bereich des Gehirns senden.“ Dank von Zuschüssen des National Institute for Neurological Disorders and Stroke – einem Teil des National Institutes of Health (NIH) – konnte Apkarian nachweisen, dass das Gehirn, anstatt nur auf unangenehme Empfindungen von außen zu reagieren, im Belagerungszustand selbst Schmerzen zu erzeugen beginnt. „ Die offizielle Definition von chronischem Schmerz“, schrieb Apkarian in der Zeitschrift Pain Management, „besteht darin, dass er auch nach Abschluss der mit einer Verletzung zusammenhängenden Heilungsprozesse anhält“.
Die Gehirnaktivität von Untersuchenden mit chronischen Schmerzen unterscheidete sich von der Nozizeption (Wahrnehmung einer Schädigung), die bei Patienten mit experimentell verursachten Schmerzen beobachtet wurde – beispielsweise durch einen heißen Stab auf einem empfindlichen Bereich des Arms. Während die durch Nozizeption verursachten Schmerzen vor allem sensorische Bereiche aktivierten – also diejenigen, die Sie dazu veranlassen würden, ruckartig den Arm wegzuziehen, um sich nicht zu verletzen -, beobachtete Apkarians Gruppe, dass chronische Schmerzen den präfrontalen Kortex und die limbischen Bereiche des Gehirns aktivieren. Der präfrontale Kortex steuert das Denken auf höherer Ebene, einschließlich der Zielsetzung und Entscheidungsfindung, während die limbischen Bereiche, einschließlich Hippocampus und Nucleus accumbens, Gedächtnis, Motivation und Freude steuern.
Wie chronischer Schmerz das Gehirn verändert
Apkarians Gruppe stellte fest, dass die Anatomie des menschlichen Gehirns bei Patienten mit chronischen Schmerzen abnormal ist. Bei denen, die fünf Jahre lang unter Schmerzen litten, kam es zu einer strukturellen Veränderung sowohl des Hippocampus als auch des präfrontalen Kortex, wobei dabei Ganze 5 bis 11% der grauen Substanz verloren gingen (Studie befindet sich hier). Dies war wichtig, da der präfrontale Kortex in Zusammenarbeit mit dem Hippocampus bestimmt, wie optimistisch oder depressiv Patienten ihre Aussichten wahrnehmen, wie gut sie mit Schmerzen umgehen können und Entscheidungen über Therapien treffen. In diesem Bereich ist zwar noch viel Forschung nötig, aber wie Apkarian erklärte, „Es besteht die Idee darin, dass anhaltende, unaufhörliche Schmerzen die limbischen Strukturen im Gehirn beeinflussen, die wiederum die Hirnrinde dazu anregen, sowohl das Leiden als auch die Bewältigungsstrategien widerzuspiegeln, die sich bei chronischen Schmerzpatienten entwickeln“.
In der Folge wurden mehr als 50 Studien durchgeführt, meist von anderen Forschern, einen regionalen Rückgang der Dichte, des Volumens oder der Dicke der grauen Substanz. Darüber hinaus wird das neuronale Netzwerk der verbleibenden grauen Substanz umgestaltet, und zwar in Mustern, die für chronische Schmerzsyndrome spezifisch sind. Das bedeutet, dass beispielsweise das Gehirn eines Menschen mit Rückenschmerzen anders aussieht als das Gehirn eines Menschen mit einem wiederholten Belastungstrauma. Apkarian fügt hinzu, dass es noch immer unklar ist, „inwieweit die beobachtete Reorganisation des Gehirns eine ursächliche Reaktion auf den Zustand oder ein prädisponierender Faktor ist”.
Regionale graue Substanzdichte ist bei chronischen Rückenschmerzen reduziert. Das Bild zeigt einen unparametrischen Vergleich der voxelbasierten Morphometrie zwischen Untersuchenden mit chronischen Rückenschmerzen (CRS) und Kontrollprobanden. Die graue Substanzdichte ist in der dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC) bilateral reduziert- Details finden Sie HIER.
Das „gesprächige“ Gehirn
Bei Menschen mit chronischen Schmerzen ändert sich mindestens ein weiterer Aspekt der Gehirnaktivität. Der Nucleus accumbens spielt eine zentrale Rolle im Belohnungssystem des Gehirns und steuert so Gefühle von Vergnügen und Motivation. Laut Wissenschaftlern der Stanford-Universität, die den Nucleus accumbens bei Mäusen untersuchten, ist diese Gehirnstruktur an der „Berechnung von Verhaltensstrategien beteiligt, die uns dazu führen, Dinge zu suchen oder zu vermeiden, die unser Überleben beeinflussen können”.
Bei Patienten mit chronischen Schmerzen stellten Apkarians Forscher fest, dass der Nucleus accumbens und der mediale präfrontale Kortex (der wiederum die Entscheidungsfindung vermittelt) ungewöhnlich aktiv werden.
Diese stark erhöhte Kommunikation zwischen den beiden Bereichen stellt eine tiefgreifende Reorganisation der neuronalen Verbindungen dar. Es ist möglich, dass diese erhöhte Aktivität mit der Unwilligkeit von Patienten mit chronischen Schmerzen zusammenhängt, sich an Selbstpflegeprotokolle wie z. B. Bewegung zu halten. Die erhöhte Kommunikation könnte auch dazu führen, dass sie dazu neigen, Maßnahmen zu ergreifen, die „einfach“ erscheinen, aber oft nicht effektiv sind und sich im Nachhinein als schädlich erweisen könnten. Es ist leicht zu verstehen, warum dies so ist. Wenn man nicht das Gefühl hat, dass sich harte Arbeit lohnt oder dass sich die Situation bessern wird, ist es schwer, die Energie aufzubringen, um etwas durchzuziehen.
Paradigmenwechsel in der Schmerzforschung
Ein hervorragender Artikel auf der Website des digitalen Magazins Mosaic, herausgegeben vom britischen Wellcome Trust, zitiert Professorin Irene Tracey, Leiterin der Nuffield Division of Clinical Neurosciences an der Universität Oxford. Tracey merkt an, dass die wichtigste Veränderung in der Bewertung chronischer Schmerzen die Erkenntnis ist, dass chronische Schmerzen etwas anderes sind als nozizeptive Schmerzen. „Wir haben sie immer als akute Schmerzen betrachtet, die einfach weiter und weiter bestehen – wenn chronische Schmerzen nur eine Fortsetzung akuter Schmerzen wären, könnte man das Problem beheben, was den akuten Schmerz verursacht hat, wodurch die chronischen Schmerzen verschwinden sollten“, meinte sie. „Das hat sich jedoch als völlig erfolglos erwiesen. Jetzt betrachten wir chronische Schmerzen als eine Verlagerung woanders hin, mit anderen Mechanismen, wie beispielsweise Veränderungen der Genexpression, der Freisetzung von Chemikalien, der Neurophysiologie und der Beteiligung. Wir haben all diese völlig neuen Denkweisen über chronische Schmerzen. Das ist ein Paradigmenwechsel in der Schmerzforschung.“
Eines der Erklärungsmodelle für das Phänomen der zentralen Sensibilisierung ist, dass, wenn eine Verletzung einen Aspekt des peripheren Nervensystems betrifft, auch Neuronen im zentralen Nervensystem gestört werden können. Dieses erhöhte Signal-Rausch-Verhältnis kann zu einer erhöhten Aktivierung von Calciumkanälen führen, molekularen Poren, die den Fluss von Calciumionen durch die Zellmembran steuern. Dies erhöht die Anzahl der chemischen Nachrichten, die zwischen den Nervenzellen zirkulieren.
Chronische Schmerzen als neurobiologische Lernstörung
Eine aktuelle Hypothese stellt die Vermutung auf, dass die zentrale Sensibilisierung eine Art neurobiologische Lernstörung widerspiegelt: Das Gehirn interpretiert Schmerzmeldungen falsch, die nie abgewiesen werden, sondern weiterhin endlos vom PNS zum ZNS wandern, sodass das Gehirn nicht in der Lage ist, eine neue Richtung einzuschlagen. Einige Wissenschaftler haben dazu angemerkt, dass die zentrale Sensibilisierung als eine Form des klassischen Konditionierens verstanden werden kann: So wie der russische Physiologe Iwan Pawlow seine Hunde darauf konditionierte, zu speicheln, wenn eine Glocke mit Futter verbunden wurde, und dann zu speicheln, wenn nur die Glocke ertönte, nimmt ein Körper, der gelernt hat, Schmerzen als Reaktion auf eine Verletzung oder ein Trauma wahrzunehmen, diese weiterhin als Reaktion auf unbedeutende Reize wahr.
Neuere Forschungsergebnisse haben bestätigt, was viele Patienten nur allzu gut kennen: Chronische Rückenschmerzen gehen oft mit anderen Schmerzen einher, darunter beispielsweise Kopfschmerzen, andere muskuloskelettale Störungen, Kiefergelenkserkrankungen, Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom und chronisches Müdigkeitssyndrom. Menschen, bei denen sich eine zentrale Sensibilisierung entwickelt hat, können auch Licht, Geräusche oder Gerüche als ungewöhnlich störend empfinden oder erhöhte Angstzustände verspüren. Angstzustände, Stress und Depressionen sind bei etwa 30 bis 45% der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zu beobachten und bei einem noch höheren Prozentsatz der Patienten mit Rückenschmerzen, die in der frühen Kindheit negative Erfahrungen gemacht haben.
Opiate sind keine Lösung
Man könnte davon ausgehen, dass Opiate helfen könnten, das gestörte und dysregulierte Nervensystem zu beruhigen – diese Annahme wurde aber widerlegt. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die langfristige Einnahme von Opioidanalgetika, insbesondere hoher Dosen von Langzeitwirkstoffen wie beispielsweise OxyContin und Methadon, ist mit der Entwicklung einer speziellen Art der zentralen Sensibilisierung verbunden, die als „opioidinduzierte Hyperalgesie“ bezeichnet wird und zu einer ungewöhnlichen Schmerzempfindlichkeit führt.
Trotz jahrzehntelanger Bemühungen von Apkarian und Woolf wird es wahrscheinlich noch viele Jahre dauern, bis Ärzte gezielte Wirkstoffe zur Therapie der neurobiologischen Mechanismen einsetzen können, die zur zentralen Sensibilisierung führen. „Die große klinische Herausforderung bleibt die Identifizierung dieser Mechanismen auf der Grundlage des Phänotyps einzelner Schmerzpatienten und die anschließende gezielte Beeinflussung des molekularen Mechanismus mit einem spezifischen Wirkstoff“, erklärt Woolf.
Es ist leicht zu verstehen, warum der Fortschritt immer noch langsam ist: Nach allgemeiner Meinung muss man in der Medizin operieren, verschreiben, implantieren oder injizieren, um Geld zu verdienen. Die Schmerzforschung, die sich mit komplexen neurologischen Funktionen befasst, ermöglicht solche Eingriffe nicht ohne weiteres.
Historisch gesehen hat das NIH nur 1% seines Forschungshaushalts für die Schmerzforschung bereitgestellt. Die Hersteller von Schmerzmitteln sahen bis vor kurzem keinen Grund, in sehr spekulative Forschung zu investieren, da dies die Gewinne ihrer Aktionäre unverantwortlich schmälern würde. Aber angesichts des bevorstehenden Rückfalls der Opioidtherapie und sinkender Gewinne ist die Suche nach neuen therapeutischen Zielen plötzlich sehr attraktiv geworden.
Kognitive Verhaltenstherapie als Therapie
Medikamentöse Ziele sind zwar noch in weiter Ferne, aber viele Psychologen und Schmerztherapeuten glauben, dass die zentrale Sensibilisierung erfolgreich mit einer Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und graduiertem, schmerzfreiem Training geheilt werden kann. Die gute Nachricht ist, dass mehrere Labore jetzt nachgewiesen haben, dass eine dreimonatige KVT nach einer angemessenen Schmerztherapie die schmerzbedingten Veränderungen der grauen Substanz deutlich verändern können.
Die KVT beinhaltet eine schrittweise Exposition gegenüber gefürchteten Reizen. Das bedeutet, dass Sie Ihre Angst vor Spinnen oder Fliegen abbauen, indem Sie sich sicher und wiederholt einer Spinne bzw. Fliege begegnen. Bei Patienten mit Rückenschmerzen kann die Angst vor Schmerzen lebensbedrohlich erscheinen. Diese Vorstellung wird ihnen oft von medizinischem Personal vermittelt, das die Patienten unnötig davor warnt, „vorsichtig zu sein“ und „ihren Rücken zu schonen“. Es geht darum, den Patienten zu vermitteln, dass bei chronischen Rückenschmerzen die Schmerzen in der Regel keine Schädigung bedeuten.
Je nach Art des Rehabilitationsprogramms für chronische Schmerzen, an dem Sie teilnehmen, kann es sein, dass Sie mit einer mit Stahlziegeln gefüllten Plastikmilchkanne hantieren, Wasseraerobic betreiben, freie Gewichte heben oder einen Workout-Schlitten schieben oder Beachvolleyball spielen, alles unter der strengen, aber meist wenig sympathischen Aufsicht von jemandem, der weiß, wie der Körper funktioniert und dies alles schon einmal erlebt hat. Stirnrunzeln, Stöhnen, seltsame Körpermechanik – all das muss weg. Und wenn das passiert, wird der Patient mit dem Gefühl belohnt, seinen eigenen Körper zu beherrschen.
EEG-Neurofeedback als potenzielle Therapieoption
Zentrale Sensibilisierung hat zwei Hauptmerkmale:
Allodynie – Die Tendenz, Schmerzen bei Reizen zu empfinden, die normalerweise nicht schmerzhaft sind.
Hyperalgesie – ein schmerzhafter Reiz wird als deutlich schmerzhafter empfunden als er normalerweise wäre.
Zentrale Sensibilisierung kann auch zu übermäßiger Empfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen und Gerüchen sowie zu kognitiven Defiziten führen.
Es wird vermutet, dass die zentrale Sensibilisierung mit folgenden Erkrankungen zusammenhängt: Schlaganfall, Rückenmarksverletzung, chronische Rückenschmerzen, chronische Spannungskopfschmerzen, Migräne, rheumatoide Arthritis, Kniearthrose, Endometriose, Verkehrsunfälle, postoperative Schmerzen, Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom und chronisches Müdigkeitssyndrom.
Es scheint, dass dieser Zustand auch mit Veränderungen im dorsalen Horn des Rückenmarks und im Gehirn verbunden ist. Dieses wird durch viele absteigende Bahnen aus dem Gehirn beeinflusst. Neurofeedback zielt darauf ab, diese abnormale Gehirnfunktion zu korrigieren.
Neurofeedback, auch Neurotherapie genannt, ist eine Form der Biofeedbacktherapie, die Echtzeit-Feedback aus der Gehirnaktivität nutzt, um die gesunde Gehirnfunktion durch operante Konditionierung zu stärken.
Im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2019 absolvierten Teilnehmer mit chronischen Rückenschmerzen 20 Sitzungen eines Alpha-Theta-Synchronie-EEG-Neurofeedback-Trainings. Die Studie zeigte eine „große und dauerhafte Wirkung“ der Therapie, einschließlich einer Schmerzreduktion, die auch nach 6 und 12 Monaten Nachbeobachtung noch anhielt.
In einer Studie aus dem Jahr 2010 wurden Teilnehmer mit Fibromyalgie 20 Wochen lang mit Neurofeedback behandelt. Das Training zielte darauf ab, den sensomotorischen Rhythmus (SMR, 12-15 Hz) zu erhöhen. Bei allen behandelten Patienten kam es zu einer deutlichen Verbesserung aller Symptome, einschließlich Schmerzen, psychischer Beschwerden und einer beeinträchtigten Lebensqualität.
Im Jahr 2011 verglich eine Migräne-Studie QEEG-gesteuertes Neurofeedback mit medikamentöser Therapie. In der Neurofeedback-Gruppe erreichten 54% der Patienten eine vollständige Remission der Migräne-Kopfschmerzen. Bei weiteren 39% kam es zu einer Reduzierung der Migränefrequenz um mehr als 50%. Im Gegensatz dazu erfuhren Patienten, die ihre medikamentöse Therapie fortsetzten, kaum Besserung. 68% der Patienten in der medikamentösen Therapie-Gruppe zeigten keine Veränderung der Kopfschmerzfrequenz und nur 8% erreichten eine Reduzierung um mehr als 50%.
Darüber hinaus wurden kleine Pilotstudien durchgeführt, die die Wirksamkeit von Neurofeedback bei der Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität bei komplexem regionalem Schmerzsyndrom (CRPS/RSD) belegten (beispielsweise bei Rückenmarksverletzungen, traumatisch bedingten Kopfschmerzen und chemotherapieinduzierter Neuropathie). Dabei erzielten die Studien oft mittelgroße bis große Wirkungen. Bemerkenswert ist, dass alle Studien bis auf diejenige zu chemotherapieinduzierter Neuropathie funktionelle Kriterien für die Therapieprotokolle nutzten, während letztere einen QEEG-basierten Ansatz verwendete.