Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannte der deutsche Biochemiker Otto Warburg, dass man Krebs vielleicht heilen könnte, indem man der Energiequelle der Krankheit den Hahn abdrehen würde. Seine bahnbrechende Idee wurde jahrzehntelang ignoriert – jetzt ändert sich das Ganze.
Ein Seeigel machte den Anfang
Die Geschichte der modernen Krebsforschung beginnt auf den ersten Blick überraschenderweise mit einem Seeigel. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entdeckte der deutsche Biologe Theodor Boveri, dass die Befruchtung der Eier eines Seeigels mit zwei Spermien statt nur einer dazu führte, dass einige Zellen eine falsche Anzahl von Chromosomen aufwiesen und sich nicht richtig entwickelten. Dies geschah noch vor der Zeit der modernen Genetikforschung, aber Boveri erkannte, dass mutierte Zellen, wie die deformierten Seeigelzellen, abnormale Chromosomen hatten. Er vermutete, dass die Ursache von Krebs etwas mit Chromosomen zu tun haben musste.
Heute wird Boveri als einer der Entdecker der Ursprünge von Krebs gefeiert. Ein anderer deutscher Wissenschaftler, Otto Warburg, untersuchte jedoch zur gleichen Zeit wie Boveri Seeigeleier. Auch seine Forschungen sollten sich als bahnbrechende Erkenntnisse im Bereich des Krebsverständnisses erweisen. In den folgenden Jahrzehnten verschwand Warburgs Entdeckung jedoch weitgehend aus dem Diskurs über Krebs, und sein Beitrag wurde so wenig geschätzt, dass er sogar aus Lehrbüchern verschwunden war.
Im Gegensatz zu Boveri interessierte sich Warburg nicht für die Chromosomen der Seeigeleier. Warburg konzentrierte sich vielmehr die Energie zu erforschen, welche die Eier im Wachstum antreibt. Als Warburg 1923 seine Aufmerksamkeit von Seeigelzellen auf die Zellen eines Rattentumors richtete, wusste er bereits, dass Seeigeleier während ihres Wachstums ihren Sauerstoffverbrauch deutlich erhöhen. Daher erwartete er, dass auch der Rattentumor einen ähnlichen Bedarf an zusätzlichem Sauerstoff haben würde. Stattdessen trieben die mutierten Zellen ihr Wachstum an, indem sie riesige Mengen Glukose (Blutzucker) verbrauchten ohne dabei Sauerstoff abzubauen. Das Ergebnis machte wenig Sinn. Sauerstoffabhängige Reaktionen sind eine weitaus effizientere Art der Energiegewinnung aus Nahrung, und die mutierten Zellen hatten ausreichend Sauerstoff zur Verfügung, den sie hätten nutzen können. Doch als Warburg weitere Tumore untersuchte, darunter auch menschliche, stellte er jedes Mal denselben Effekt fest. Die Krebszellen waren auf Glukose angewiesen.
Otto Warburg im Oktober 1931 in seinem Labor.
Der Warburg-Effekt
Warburgs Entdeckung, welche später nach ihm benannt wurde, tritt schätzungsweise bei bis zu 80 % aller Tumorarten auf. Für die meisten Krebsarten ist er so essenziell, dass die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), die zu einem wichtigen Instrument bei der Stadienbestimmung und Diagnose von Krebserkrankungen geworden ist, schlichtweg Orte im Körper aufdeckt, an denen Zellen vermehrt Glukose verbrauchen. Je mehr Glukose ein Tumor verbraucht, desto schlechter ist in vielen Fällen die Prognose des Patienten.
Einige Jahre nach seiner Entdeckung festigte sich bei Warburg die Überzeugung, dass der Warburg-Effekt auf eine eingeschränkte Fähigkeit der Zellen zur Sauerstoffverwertung zurückzuführen sei und diese gestörte Atmung quasi der Grundstein bösartiger Wucherungen darstelle.
Diese Theorie, an der Warburg bis zu seinem Tod im Jahr 1970 festhielt, konnte er jedoch nie schlüssig belegen und blieb in den 1950er Jahren Gegenstand hitziger Debatten innerhalb der Fachwelt. Dann, schneller als erwartet, war die Diskussion beendet. Im Jahr 1953 entschlüsselten James Watson und Francis Crick die Struktur des DNA- Moleküls und ebneten damit den Weg für den Siegeszug der molekularen Biologie, die sich auf die genetischen Aspekte von Krebserkrankungen konzentrierte. In den folgenden Jahrzehnten betrachteten Wissenschaftler Krebs zunehmend als Erkrankung, die von mutierten Genen gesteuert wird, welche Zellen in einen Zustand unkontrollierter Teilung und Vermehrung versetzen. Die metabolischen Katalysatoren, deren Erforschung Warburg sein ganzes Leben widmete, wurden als „hausmeisterliche Enzyme“ bezeichnet – zwar notwendig, um die Zelle am Laufen zu halten, für das tiefere Verständnis von Krebs jedoch weitgehend als irrelevant erachtet.
Die Achillesferse des Krebses
„Es war eine Flucht,” erklärt Thomas Seyfried, Biologe am Boston College, über den Wechsel zur Molekularbiologie. “Warburg wurde wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen.” Es gab viele Gründe anzunehmen, dass Warburg bestenfalls eine Fußnote in der Geschichte der Krebsforschung bleiben würde. Dominic D’Agostino, Dozent an der Morsani School of Medicine der Florida International University, fügt hinzu: “In dem Lehrbuch, das meine Studenten im Unterricht der Tumorbiologie verwenden müssen, wird der Krebsstoffwechsel überhaupt nicht erwähnt.” Doch im letzten Jahrzehnt, und insbesondere in den letzten fünf Jahren, hat sich einiges geändert: Diese „hausmeisterlichen Enzyme“ sind wieder zu einem der vielversprechendsten Forschungsgebiete in der Krebsforschung geworden. Wissenschaftler fragen sich nun, ob sich der Stoffwechsel als die lange gesuchte Achillesferse des Krebses erweisen könnte, eine gemeinsame Schwachstelle der Krankheit, die sich in so vielen verschiedenen Formen äußert.
In einem einzelnen Krebs können zahlreiche Mutationen auftreten.
Es gibt jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, wie der Körper Energie produzieren und schnelles Wachstum unterstützen kann.
Krebszellen verlassen sich auf diese Energieträger in einer Weise, wie es gesunde Zellen nicht tun. Die Wissenschaftler, die an der Spitze der Warburg-Renaissance stehen, hoffen, das Wachstum von Tumoren verlangsamen oder sogar stoppen zu können, indem sie eine oder mehrere der vielen chemischen Reaktionen stören, die die Zelle zur Vermehrung nutzt, und so die mutierten Zellen der Nährstoffe berauben, die sie zum Wachstum dringend benötigen.
Selbst James Watson, einer der Väter der Molekularbiologie, ist überzeugt, dass die gezielte Beeinflussung des Stoffwechsels im aktuellen Kampf gegen Krebs der vielversprechendere Ansatz ist als die bisherigen genetischen Ansätze. In seinem Büro am Cold Spring Harbor Laboratory auf Long Island, erklärt der 88-jährige Watson unter einem der originalen Entwürfe des DNA- Moleküls, dass die Suche nach krebsauslösenden Genen „bemerkenswert nutzlos“ gewesen sei – der Glaube, dass die Sequenzierung Ihrer DNA Ihr Leben verlängern würde, sei eine „grausame Illusion“. „Wenn ich heute Krebsforschung betreiben würde, würde ich eher Biochemie als Molekularbiologie studieren.”
„Noch vor zwei Monaten hätte ich nicht gedacht, dass ich jemals den Krebszyklus lernen müsste,” sagte er weiter, in Anspielung auf die Reaktionen, die den meisten Schülern im Biologieunterricht beigebracht werden und mit denen die Zelle ihren eigenen Energiehaushalt steuert. “Jetzt habe ich gemerkt, dass ich es muss.”
Wer war Otto Warburg
Otto Warburg , geboren 1883 in die berühmte Warburg-Familie, wurde als wissenschaftliches Wunderkind gehandelt. Sein Vater Emil war ein führender deutscher Physiker, und viele der größten Physiker und Chemiker der Welt, darunter Albert Einstein und Max Planck, zählten zu den Freunden der Familie. Als Warburg im Ersten Weltkrieg zum Militär eingezogen wurde, schickte Einstein ihm einen Brief mit der dringenden Bitte, für die Wissenschaft zurückzukehren. Diese Männer erklärten die Geheimnisse des Universums mit einigen grundlegenden Gesetzen, und der junge Warburg glaubte, er könne dieselbe elegante Einfachheit und Klarheit auch auf die Funktionsweise des Lebens übertragen. Lange vor seinem Tod galt Warburg als der wahrscheinlich bedeutendste Biochemiker des 20. Jahrhunderts, als ein Mann, dessen Forschung nicht nur für das Verständnis von Krebs, sondern auch für die Atmung und Photosynthese wegweisend war. 1931 erhielt er den Nobelpreis für seine Arbeit über die Atmung. Zweimal stand er für eine weitere Auszeichnung zur Debatte – jedes Mal für eine andere Entdeckung. Berichten zufolge hätte er den Nobelpreis 1944 erhalten, wenn die Nazis jüdischen deutschen Staatsbürgern die Annahme des Preises nicht verboten hätten.

Otto Warburg (Zweiter von rechts) mit Wissenschaftlern an der Universität von Illinois in Urbana.
Die deutsche Obsession mit Krebs
Dass Warburg trotz seiner jüdischen Herkunft und seiner mutmaßlichen Homosexualität während des gesamten Zweiten Weltkriegs in Deutschland leben und weiter forschen konnte, ist ein Hinweis auf die deutsche Besessenheit vom Krebs, welche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte. Damals war Krebs in Deutschland weiter verbreitet als in fast jedem anderen Land. Laut dem Stanford-Historiker Robert Proctor wurde das zunehmende Auftreten von Krebs in Deutschland in den 1920er Jahren zu einem „großen Problem“. Es wird vermutet, dass einige hochrangige Nazis, darunter Hitler, die Krankheit besonders fürchteten; Hitler und Joseph Goebbels nahmen sich Zeit, in den Stunden vor dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion über neue Fortschritte in der Krebsforschung zu diskutieren. Ob Hitler persönlich von Warburgs Forschung wusste, ist nicht bekannt. Allerdings schrieb einer von Warburgs ehemaligen Kollegen, dass ihm mehrere Quellen mitgeteilt hätten, dass „Hitlers Umfeld“ davon überzeugt gewesen sei, „dass Warburg der einzige Wissenschaftler ist, der ernsthafte Hoffnung auf die Entwicklung eines Heilmittels gegen Krebs machen kann”.
Obwohl viele jüdische Wissenschaftler Deutschland in den 30er Jahren verließen, entschied sich Warburg zu bleiben. Laut seinem Biographen, dem Nobelpreisträger und Biochemiker Hans Krebs, der in Warburgs Labor arbeitete, „war die Wissenschaft die dominierende Emotion“ in Warburgs Erwachsenenleben, „die praktisch alle anderen Emotionen unterdrückte.“ Warburg baute Hans Krebs zur Folge dann jahrelang ein kleines Team speziell ausgebildeter Techniker auf, die wussten, wie man seine Experimente durchführt. Er befürchtete jedoch, dass sein Feldzug gegen den Krebs erheblich ins Stocken geraten würde, wenn er von vorne anfangen müsste. Nach dem Krieg entließ Warburg jedoch all diese Techniker, weil er sie verdächtigte, seine Kritik am Dritten Reich der Gestapo gemeldet zu haben. Warburgs Entscheidung, im nationalsozialistischen Deutschland zu bleiben, rührte wahrscheinlich von seinem enormen Ego her. (Als er von seinem Nobelpreis erfuhr, soll Warburg gesagt haben: „Es wurde auch höchste Zeit.”)
Biochemie von Krebs
„Bescheidenheit war keine Tugend von Otto Warburg“, sagt George Klein, ein mittlerweile über 90-jähriger Krebsforscher vom Karolinska Institut in Schweden. Als junger Mann wurde Klein gebeten, Warburg mutierte Zellen ins Labor zu schicken. Einige Jahre später bat Kleins Chef Warburg um eine Empfehlung für Klein. Warburg schrieb: „George Klein hat einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung bösartiger Tumoren geleistet. Er schickte mir Zellen, mit denen ich das Krebsrätsel gelöst habe.“ Klein erinnert sich auch an Warburgs Vortrag in Stockholm im Jahr 1950 anlässlich des 50. Jahrestags der Verleihung des Nobelpreises. Warburg zeichnete damals vier Diagramme an die Tafel, um den Warburg-Effekt zu erklären, und sagte dann dem Publikum, dass dies alles sei, was sie über die Biochemie bösartiger Tumoren wissen müssten.
Warburg war so stur, dass er sich weigerte, das Wort „Mitochondrien“ zu verwenden, selbst, nachdem es allgemein als Bezeichnung für die kleinen Strukturen, die die Zellen antreiben, akzeptiert worden war. Stattdessen nannte Warburg sie beharrlich „Grana“, ein Begriff, den er selbst erfunden hatte, als er diese Strukturen als Ort der Zellatmung bezeichnete. Nur weniges hätte ihn mehr aufbringen können als die Vorstellung, von den nationalsozialistischen Schlägern aus seinem schönen Berliner Institut vertrieben zu werden, das nach dem Vorbild eines Landsitzes speziell für ihn gebaut worden war. Nach dem Krieg wandten sich die Russen an Warburg mit einem Angebot, in Moskau ein neues Institut zu errichten. Klein erinnert sich, dass Warburg ihnen mit großem Stolz sagte, dass weder Hitler noch Stalin etwas gegen ihn ausrichten könnten. Wie Warburg seiner Schwester erklärte: „Ich war vor Hitler da”.
Warburgs Werkstatt: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie (heute Teil der Max-Planck-Gesellschaft) in Berlin, 1931.
Zellatmung
„Stellen Sie sich zwei Motoren vor, von denen der eine mit vollständiger und der andere mit unvollständiger Verbrennung von Kohle betrieben wird“, schrieb Warburg im Jahr 1956 als Reaktion auf Kritik an seiner Hypothese, dass Krebs ein Energieproblem sei. „Jemand, der von Motoren, deren Konstruktion und Zweck überhaupt nichts weiß, kann den Unterschied erkennen. Er kann ihn beispielsweise riechen.”
„Vollständige Verbrennung“ in Warburgs Analogie ist die Atmung. „Unvollständige Verbrennung“, die Umwandlung von Nährstoffen in Energie ohne Sauerstoff, wird als Gärung bezeichnet. Die Gärung bietet eine nützliche Reserve, wenn der Sauerstoff nicht schnell genug zu den Zellen gelangt, um den Bedarf zu decken. Unsere Muskelzellen greifen bei intensivem Training auf die Gärung zurück. Warburg glaubte, dass Defekte die Krebszellen daran hindern, die Atmung zu nutzen, aber heute sind sich die Wissenschaftler allgemein einig, dass dies falsch ist. Einen wachsenden Tumor können wir uns als Baustelle vorstellen, und wie heutige Wissenschaftler erklären, öffnet der Warburg-Effekt immer mehr Lastwagen die Tore, die Baumaterial (in Form von Glukosemolekülen) liefern, um „Tochterzellen“ zu bilden.
Wenn diese Theorie das „warum“ des Warburg-Effekts erklären kann, bleibt die noch dringlichere Frage, was genau eine Zelle auf den Weg zum Warburg-Effekt und zur Tumorbildung bringt. Wissenschaftler aus einigen der besten nationalen Krebszentren haben sich an die Spitze der Wiederbelebung des Warburg-Effekts gestellt, in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Diese Forscher, die meist Molekularbiologen sind, haben sich dem Stoffwechsel und dem Warburg-Effekt zugewandt, weil ihre eigene Forschung sie immer zu dem gleichen Schluss geführt hat: Eine Reihe von krebsverursachenden Genen, die seit langem für ihre Rolle bei der Zellteilung bekannt sind, regulieren auch den Nährstoffverbrauch der Zellen.
Soziales Versagen einzelliger Organismen
Craig Thompson, Präsident und CEO des Memorial Sloan Kettering Cancer Center, gehört zu den lautstärksten Verfechtern dieser erneuten Fokussierung auf den Metabolismus. Nach Thompsons Analogie kann der Warburg-Effekt als soziales Versagen angesehen werden: ein Bruch der Vereinbarung über die Nahrungsmittelteilung, die einzellige Organismen getroffen haben, als sie sich zusammenschlossen und zu mehrzelligen Organismen wurden. Seine Forschung hat gezeigt, dass Zellen sowohl Anweisungen von anderen Zellen benötigen, um Nahrung aufzunehmen, als auch Anweisungen, um sich zu teilen. Thompson vermutete, dass die Identifizierung von Mutationen, die eine Zelle dazu bringen, mehr Glukose aufzunehmen, als sie sollte, einen großen Schritt nach vorne bei der Erklärung des Warburg-Effekts und von Krebs bedeuten würde. Thompsons Suche nach diesen Mutationen führte ihn jedoch nicht zu einer völlig neuen Entdeckung. Stattdessen führte es ihn zum Gen AKT, das Molekularbiologen bereits gut für seine Rolle bei der Förderung der Zellteilung bekannt ist. Thompson glaubt, dass AKT eine noch wichtigere Rolle im Stoffwechsel spielt.
Der erste Krebsversuch für jedermann
Das von AKT produzierte Protein ist Teil einer Kette von Signalproteinen, die bei bis zu 80 Prozent aller Krebsfälle mutiert sind. Thompson sagt, dass sich die Zelle, sobald diese Proteine in Gang gesetzt sind, nicht mehr um die Signale anderer Zellen kümmert, um zu essen, sondern stopft sich mit Glukose voll. Thompson fand heraus, dass er den „vollen Warburg-Effekt“ hervorrufen kann, indem er einfach aktiviertes AKT-Protein in eine normale Zelle einfügt. In diesem Fall beginnt die Zelle, das zu tun, was jeder einzellige Organismus in Gegenwart von Nahrung tut: sie frisst so viel wie möglich und produziert so viele Kopien von sich selbst wie möglich. Wenn Thompson seine Forschung Schülern präsentiert, zeigt er ihnen eine Folie mit Schimmel, der sich auf einem Stück Brot ausbreitet. Die Überschrift der Folie – „Der erste Krebsversuch für jedermann“ – erinnert an Warburgs Beobachtung, dass mutierte Zellen Gärung fast mit der gleichen Geschwindigkeit durchführen wie wild wachsende Hefe.
Krebszellen können nicht aufhören zu essen
So wie Thompson die Rolle von AKT neu definierte, hat Chi Van Dang, Direktor des Abramson Cancer Center an der University of Pennsylvania, dazu beigetragen, die Krebswelt zu dem Verständnis zu führen, wie ein weit verbreitetes Gen den Stoffwechsel eines Tumors grundlegend beeinflussen kann. Im Jahr 1997 war Dang einer der ersten Wissenschaftler, der Molekularbiologie mit der Wissenschaft des zellulären Stoffwechsels verband, als er zeigte, dass MYC – ein sogenanntes Regulationsgen, das für seine Rolle bei der Zellproliferation gut bekannt ist – direkt auf ein Enzym abzielt, das den Warburg-Effekt hervorrufen kann. Dang erzählte, dass andere Wissenschaftler seinem Interesse an dem Enzym skeptisch gegenüberstanden, aber er blieb dran, weil er etwas Entscheidendes erkannte: Krebszellen können nicht aufhören zu essen.
Im Gegensatz zu gesunden Zellen fehlen wachsenden Krebszellen interne Rückkopplungsschleifen, die dazu da sind, Ressourcen schonend zu agieren, wenn keine Nahrung verfügbar ist. Sie sind „nährstoffabhängig“, sagt Dang; wenn sie nicht genug aufnehmen können, sterben sie ab. Diese Abhängigkeit von Nährstoffen erklärt, warum Veränderungen der Stoffwechselwege so häufig sind und dazu neigen, als erstes aufzutreten, wenn eine Zelle zu Krebs wird. Das liegt nicht daran, dass andere Arten von Veränderungen nicht zuerst auftreten könnten, sondern vielmehr daran, dass beginnende Tumore, wenn sie auftreten, keinen Zugang zu den Nährstoffen haben, die sie für ihr Wachstum benötigen. Dang verwendet die Analogie einer Baumannschaft, die versucht, ein Gebäude zu errichten. Er erklärt: „Wenn Sie nicht genügend Zement haben und versuchen, viele Ziegel zu verbauen, werden Sie zusammenbrechen.“
Die Forschung zu Therapien, die auf den Stoffwechsel von Krebszellen abzielt, bringt vielversprechende Ergebnisse. Die von Thompson mitbegründete Firma Agios Pharmaceuticals testet derzeit ein Medikament zur Behandlung von akuter myeloischer Leukämie, das gegen andere Therapien resistent ist. Das Medikament hemmt mutierte Versionen des Stoffwechselenzyms IDH2 und erreicht in klinischen Studien bei fast 40 Prozent der Patienten mit diesen Mutationen mindestens eine teilweise Zustandsverbesserung.
Wissenschaftler im Labor von Peter Pedersen, Professor für Biochemie an der Johns-Hopkins-Universität, haben herausgefunden, dass die Verbindung 3-Brompyruvat die Energieproduktion in Tumorzellen blockieren und bei Ratten und Kaninchen zumindest fortgeschrittenen Leberkrebs heilen kann. (Tests mit diesem Medikament am Menschen haben noch nicht begonnen.) Dang und seine Kollegen an der University of Pennsylvania versuchen nun, mehrere Stoffwechselwege gleichzeitig zu blockieren. Bei Mäusen führte dieser doppelte Ansatz zur Verkleinerung einiger Tumore ohne starke Nebenwirkungen. Dang betont, dass das Ziel nicht unbedingt die Heilung von Krebs ist, sondern ihn eher in einem „ruhenden Zustand“ unter Kontrolle zu halten, ähnlich wie Patienten mit hohem Blutdruck.
Auch Otto Warburg erkannte, dass die Abhängigkeit von Tumoren von einer konstanten Nährstoffzufuhr sich als deren Schwachstelle erweisen könnte. Nach seiner Entdeckung des Warburg-Effekts beschäftigte er sich weiterhin mit der Erforschung der an der Fermentation beteiligten Enzyme und untersuchte Möglichkeiten, diesen Prozess in Krebszellen zu blockieren. Die Herausforderung, der sich Warburg damals gegenübersah, ist auch heute noch aktuell: Krebs ist ein äußerst widerstandsfähiger Gegner. Es hat sich gezeigt, dass die Blockierung eines einzigen Stoffwechselwegs das Wachstum eines Tumors verlangsamt oder sogar stoppen kann, aber Krebszellen neigen dazu, einen anderen Weg zu finden. „Blockiert man Glukose, verwenden sie Glutamin“, sagt Dang und verweist damit auf einen weiteren primären Brennstoff von Krebszellen. „Wenn man Glukose und Glutamin blockiert, können sie dann Fettsäuren nutzen? Das wissen wir noch nicht.”
Metformin
Angesichts der Warburg-Geschichte ist es bezeichnend, dass eines der vielversprechendsten Medikamente zur Krebstherapie seit Jahrzehnten vor unseren Augen liegt. Dieses Medikament, Metformin, wird bereits seit vielen Jahren zur Senkung des Blutzuckerspiegels bei Diabetikern eingesetzt (im Jahr 2014 wurden in den Vereinigten Staaten 76,9 Millionen Rezepte für Metformin ausgestellt). In den nächsten Jahren wird es voraussichtlich zur Therapie – oder zumindest zur Prävention – einiger Krebsarten eingesetzt werden. Da Metformin mehrere Stoffwechselwege beeinflussen kann, ist der genaue Mechanismus, durch den es seine krebsbekämpfenden Wirkungen erzielt, noch Gegenstand von Diskussionen. Die Ergebnisse zahlreicher epidemiologischer Studien sind jedoch verblüffend. Es scheint, dass Diabetiker, die Metformin einnehmen, deutlich seltener an Krebs erkranken als Diabetiker, die Metformin nicht einnehmen – und wenn sie doch erkranken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie an dieser Krankheit sterben, deutlich geringer.
Gegen Ende seines Lebens war Warburg von seiner Ernährung besessen. Er glaubte, dass die meisten Tumore durch Ernährung verhindert werden könnten, und vermutete, dass Chemikalien, die Lebensmitteln zugesetzt werden und in der Landwirtschaft verwendet werden, Tumore verursachen könnten, indem sie die Atmung stören. Er hörte auf, Brot zu essen, wenn es nicht zu Hause gebacken wurde. Er trank nur Milch, wenn sie von einer speziellen Kuhherde stammte, und stellte in seinem Labor Sahne und Butter mit einer Zentrifuge her.
Epidemien von Diabetes, Fettleibigkeit und Krebs
Warburgs persönliche Ernährung wird wahrscheinlich nicht zum Weg der Krebsprävention werden. Aber die Wiederentdeckung des Warburg-Effekts ermöglichte es Wissenschaftlern, eine Hypothese aufzustellen, wie die Ernährung, die mit unserer Fettleibigkeits- und Diabetesepidemie in Verbindung gebracht wird – insbesondere eine zuckerreiche Ernährung, die zu einem dauerhaft erhöhten Insulinspiegel führen kann –, auch Zellen zum Warburg-Effekt und zur Tumorbildung führen kann.
Die Insulin-Hypothese basiert auf der Forschung von Lewis Cantley, dem Direktor des Meyer Cancer Center am Weill Cornell Medical College. In den 1980er Jahren entdeckte Cantley, wie Insulin, das von der Bauchspeicheldrüse freigesetzt wird und den Zellen signalisiert, Glukose aufzunehmen, die Vorgänge im Inneren der Zelle beeinflusst. Cantley bezeichnet Insulin und das eng verwandte Hormon IGF-1 (Insulin-ähnlicher Wachstumsfaktor 1) mittlerweile als „Champions“ bei der Aktivierung von Stoffwechselproteinen, die mit Krebs in Verbindung gebracht werden. Er sagt, dass er erste Beweise dafür sieht, dass in einigen Fällen „das Insulin selbst den Beginn der Tumorbildung auslöst“. Eine Möglichkeit, über den Warburg-Effekt nachzudenken, ist laut Cantley die Signalbahn von Insulin oder IGF-1, „die sich umkehrt – die Zellen verhalten sich so, als ob Insulin ihnen sagen würde, dass sie ständig Glukose aufnehmen und wachsen sollen“. Cantley, der so weit wie möglich auf Zucker verzichtet, untersucht derzeit die Auswirkungen der Ernährung auf Mäuse, welche Mutationen haben, die häufig bei Darmkrebs und anderen Krebsarten auftreten. Er sagt, dass die Auswirkungen einer zuckerreichen Ernährung auf Modelle von Darm-, Brust- und anderen Krebsarten „sehr beeindruckend“ und „ziemlich erschreckend“ aussehen.
Erhöhter Insulinspiegel ist schlimmer als Rauchen
Ein erhöhter Insulinspiegel ist auch stark mit Fettleibigkeit verbunden, die bald Rauchen als Hauptursache für vermeidbaren Krebs überholen dürfte. Krebs, der mit Fettleibigkeit und Diabetes in Verbindung gebracht wird, hat mehr Rezeptoren für Insulin und IGF-1, und Menschen mit defekten IGF-1-Rezeptoren scheinen fast immun gegen Krebs zu sein. Aus alten Studien, die sich mit der Krankengeschichte von Patienten befassen, geht hervor, dass viele Menschen, die an Darm-, Bauchspeicheldrüsen- oder Brustkrebs erkranken, vor der Diagnose einen erhöhten Insulinspiegel hatten. Es ist also nicht ganz überraschend, dass Wissenschaftler im Labor, wenn sie Brustkrebszellen züchten wollen, Insulin in die Gewebekultur geben. Wenn sie das Insulin entfernen, sterben die mutierten Zellen ab.
„Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, dass Insulin krebsfördernd ist“, sagt Watson mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs. „Es ist die beste Hypothese, die wir derzeit haben.“ Watson nimmt Metformin zur Krebsprävention ein; Metformin wirkt neben vielen anderen Wirkungen auch blutzuckersenkend. Nicht jeder Krebsforscher ist jedoch von der Rolle von Insulin und IGF-1 bei der Krebsentstehung überzeugt. Robert Weinberg, Forscher am Whitehead-Institut des M.I.T., der in den 1980er Jahren Pionierarbeit bei der Entdeckung krebsverursachender Gene leistete, steht einigen Aspekten des Wiederauflebens der Krebsstoffwechselforschung eher skeptisch gegenüber. Weinberg argumentiert, dass es noch nicht genügend Beweise dafür gibt, dass die bei adipösen Menschen vorhandenen Insulin- und IGF-1-Spiegel ausreichen, um den Warburg-Effekt auszulösen. „Es ist nur eine Hypothese“, sagt Weinberg. „Ich weiß nicht, ob sie stimmt oder nicht.”
Zu Warburgs Lebzeiten waren die Auswirkungen von Insulin auf Stoffwechselwege noch weniger bekannt. Aber angesichts seines Selbstbewusstseins ist es sehr unwahrscheinlich, dass er die Möglichkeit in Betracht gezogen hätte, dass etwas anderes als eine gestörte Zellatmung Krebs verursachen könnte. Er starb in der Gewissheit, dass er in Bezug auf diese Krankheit Recht hatte. Warburg rahmte ein Zitat von Max Planck ein und hängte es über seinen Schreibtisch: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit siegt nicht dadurch, dass sie ihre Gegner überzeugt und sie zur Einsicht bringt, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner irgendwann sterben.”